Studie: Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
Im Auftrag des Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) analysierte WifOR das Wachstumspotenzial der industriellen Gesundheitswirtschaft in Deutschland. Die Studie entwickelt Best- und Worst-Case-Szenarien für die industrielle Gesundheitswirtschaft in den Bereichen Fachkräfteengpässe, Digitalisierung sowie Forschung und Entwicklung (F&E) bis 2030. Zudem werden die industriellen Gesundheitswirtschaften in Japan, Frankreich, Großbritannien und vier weiteren Ländern verglichen. Auf Basis der Ergebnisse können konkrete Handlungsfelder definiert werden, um die Bedingungen für Wertschöpfung und Wachstum hierzulande zu verbessern.
Definition: Industrielle Gesundheitswirtschaft
Die Gesundheitswirtschaftliche Gesamtrechnung (GGR) definiert die Gesundheitswirtschaft als Querschnittsbranche. Neben der industriellen Gesundheitswirtschaft beinhaltet sie auch die medizinische Versorgung und weitere Teilbereiche – darunter unter anderem Krankenversicherungen und Wellness-Angebote. Die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW) beinhaltet Pharmazeutika, Medizintechnik, Verfahren der Biotechnologie, E-Health, den Großhandel sowie unternehmerische F&E-Aktivitäten.
Diese definitorische Abgrenzung ist das Ergebnis der langjährigen Forschungsarbeiten von WifOR für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK).
Zentrale Ergebnisse: Fachkräftemangel, Innovation und strategische Investitionen
Im Auftrag des BDI analysierten WifOR und IGES-Institut die Wirkung dreier zentraler Entwicklungen für die industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland: Fachkräftemangel, F&E und Digitalisierung. Sie haben signifikanten Einfluss auf Effizienz und Fortschritt der Gesundheitssysteme – und damit auch die Versorgungsqualität für die Bevölkerung.
Fachkräfte
Der industriellen Gesundheitswirtschaft in Deutschland fehlen derzeit 125.000 Fachkräfte. Dies führt bereits heute zu einem Verlust von 10,3 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung jährlich. Ohne Gegenmaßnahmen könnte der Fachkräftemangel in der iGW im ungünstigsten Fall bis 2030 auf 320.000 ansteigen. Dies hätte nicht nur einen Wertschöpfungsverlust von bis zu 26,6 Milliarden Euro zur Folge, sondern würde auch die verfügbaren Leistungen im Gesundheitssystem beeinträchtigen.
Forschung und Entwicklung
In der industriellen Gesundheitswirtschaft würde die derzeitige Wachstumsrate von 3,5 % pro Jahr bis 2030 zu einer Bruttowertschöpfung von 135 Mrd. € führen. In einem realistischen Best-Case-Szenario “Innovationsförderung” wird eine jährliche Wachstumsrate von 4 % geschätzt, die im gleichen Zeitraum eine Bruttowertschöpfung von insgesamt 140 Mrd. EUR erzielen würde. Bei geringeren Investitionen in F&E könnte das Wachstum allerdings auf 2,9 % pro Jahr sinken. Die Bruttowertschöpfung würde in diesem Worst-Case-Szenario auf rund 129 Mrd. € fallen – ein Rückgang von 6 Mrd. € im Vergleich zum Status Quo.
Digitalisierung
Die fortschreitende Digitalisierung bildet die Grundlage für grundlegende Verbesserungen in der Gesundheitsversorgung. Strategische Investitionen in die Digitalisierung, darunter die elektronische Patientenakte oder Telemedizin, haben das Potenzial, die jährliche Bruttowertschöpfung der iGW bis 2030 um 39 Prozent gegenüber dem Jahr 2022 zu steigern – ein Plus von 140 Milliarden Euro. Eine geringere Digitalisierungsintensität könnte hingegen zu einem Worst-Case-Szenario von 24 Prozent führen. Neben diesen Bereichen vergleicht die Studie die industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland auch mit dem internationalen Wettbewerb in Frankreich, Japan, Finnland, Singapur, USA (Massachusetts), Israel und Großbritannien. Die Ergebnisse zeigen, dass die Covid-19-Pandemie die strategische Bedeutung der industriellen Gesundheitswirtschaft weltweit erhöht hat.
Interview mit Rabea Knorr (BDI) zu den Wachstumspotenzialen der iGW
Rabea Knorr ist Leiterin der Abteilung Gesundheitswirtschaft beim BDI, der die Studie „Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft“ beauftragte. Im Interview spricht sie mit uns über das Forschungsprojekt.
WifOR: Frau Knorr, was war die Motivation, die Wachstumspotenziale der industriellen Gesundheitswirtschaft wissenschaftlich analysieren zu lassen?
Rabea Knorr: Im Jahr 2021 hat der BDI ein Strategiepapier für die Zukunft der industriellen Gesundheitswirtschaft veröffentlicht, das auf Untersuchungen von WifOR basierte. Das Papier war sehr umfangreich und enthielt konkrete Handlungsempfehlungen für die gesamte Branche – darunter zu den Themen Digitalisierung, F&E und Lieferkettensicherheit. Mit dieser Studie wollten wir bestimmte Themen genauer beleuchten. Ziel war es, eine Zahlenbasis dafür zu ermitteln, was die industrielle Gesundheitswirtschaft erreichen könnte, wenn es uns gelingt, eine positive Entwicklung in den genannten Feldern voranzutreiben, insbesondere in den Bereichen Digitalisierung und F&E.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse?
Eine sehr wichtige Erkenntnis ist der Einblick in den Fachkräftemangel mit einem potenziellen Defizit von bis zu 320.000 Fachkräften in der iGW im Jahr 2030. Die Studie zeigt aber auch, dass Digitalisierung und F&E wiederum Hebel sein können, um diesem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Dies sind zwei entscheidende Handlungsfelder, um das Wachstumspotenzial im Sinne der Wertschöpfung zu nutzen. Der internationale Vergleich macht indes deutlich, dass andere Länder im Zuge der Covid-19-Pandemie strategischer denken und handeln. Wir sehen dort umfassende politische Maßnahmen und Pakete zur Stärkung der industriellen Gesundheitswirtschaft.
Welche Ergebnisse der Studie waren unerwartet?
In der Gesundheitswirtschaft wirkt der demografische Wandel in zweifacher Hinsicht: einerseits verlassen die Babyboomer den Arbeitsmarkt und andererseits steigt die Nachfrage aufgrund einer alternden Bevölkerung signifikant. Bis zum Jahr 2030 wird erwartet, dass der Fachkräftebedarf von 1,2 auf 1,3 Millionen steigen wird, während das Angebot von 1,1 auf bis zu 1 Millionen sinkt. Obwohl das Problem des Arbeitskräftemangels allgemein bekannt ist, hatten wir vor der Studie diesbezüglich keine eindeutigen Zahlen.
Eine weitere wichtige Erkenntnis ergab sich aus dem internationalen Vergleich. Zum Beispiel gibt es in Japan eine zentrale Koordinationsstelle für die Gesundheitswirtschaft, die direkt dem Premierminister unterstellt ist. Sie konzentriert sich auf die Steigerung der Effizienz, Förderung klinischer Forschung und Stärkung der Branche im Land. Die Initiative ist Teil der Vision einer „Gesellschaft 5.0“, die darauf abzielt, Daten und künstliche Intelligenz zur Verbesserung der Lebensqualität und zur globalen Problemlösung zu nutzen.
In Deutschland haben wir während der Pandemie zwar ebenfalls einen verstärkten Fokus der Politik auf Gesundheitsthemen gesehen, aber in der Zeit danach haben sich die Prioritäten schnell wieder verschoben. Die Länder, die ihre Bemühungen hingegen fortgesetzt haben, bauen eine widerstandsfähigere Gesundheitswirtschaft auf, die sich auf langfristige Ziele konzentriert. Wir können nicht auf die nächste Pandemie warten; wir müssen jetzt Maßnahmen entwickeln und umsetzen.
Rabea Knorr (BDI)
Abteilungsleiterin Industrielle Gesundheitswirtschaft
Seit der Veröffentlichung der Studie haben Politiker – darunter auch Bundesgesundheitsminister Dr. Lauterbach – die Ergebnisse direkt aufgegriffen. Dies zeigt, dass es den politischen Entscheidungsträgern hilft, valide und verlässliche Daten in der Hand zu haben.
Warum ist es wichtig, wissenschaftliche Daten zu liefern, wenn es um die Bedeutung der Gesundheitswirtschaft geht?
Es ist wichtig, den Akteuren in der Gesellschaft den Wert von Gesundheitsinvestitionen deutlich zu machen. Dank der Forschungsarbeiten von WifOR wussten wir bereits, dass die industrielle Gesundheitswirtschaft einer der wichtigsten Sektoren der deutschen Wirtschaft ist – mit einer Bruttowertschöpfung von 103 Milliarden Euro im vergangenen Jahr.
Die jetzt veröffentlichte Studie bietet einen Blick in die Zukunft. Einerseits versprechen Digitalisierung und F&E ein enormes Wachstumspotenzial. Zum anderen zeigt der internationale Vergleich, dass andere Länder hier investieren. Wenn es uns nicht gelingt, die Bedingungen für die industrielle Gesundheitswirtschaft in Deutschland zu verbessern, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich Unternehmen für andere Standorte entscheiden, an denen die Rahmenbedingungen attraktiver sind.
Wie wird der BDI die Erkenntnisse aus der Studie nutzen?
Wir wollen unseren Stakeholdern den Wert der industriellen Gesundheitswirtschaft vermitteln, um den Sektor als attraktiven Bereich für gezielte Investitionen in Digitalisierung und F&E hervorzuheben. Seit der Veröffentlichung der Studie haben Politiker – darunter auch Bundesgesundheitsminister Dr. Lauterbach – die Ergebnisse direkt aufgegriffen. Dies zeigt, dass es den politischen Entscheidungsträgern hilft, valide und verlässliche Daten in der Hand zu haben.
Eine letzte Frage: Wie könnten die Ergebnisse dazu beitragen, die Zukunft der industriellen Gesundheitswirtschaft in Deutschland zu gestalten?
Die Studie ermöglicht es, in der Diskussion zwischen Politik und Wirtschaft konkrete Handlungsempfehlungen zu erarbeiten. Die daraus resultierenden Maßnahmen haben das Potenzial, die Rahmenbedingungen und den Wachstumspfad der industriellen Gesundheitswirtschaft zu definieren. Darüber hinaus zeigen internationale Vergleiche, was in anderen Ländern funktioniert – und helfen uns, daraus zu lernen, um der Branche mit ihrem enormen gesellschaftlichen Beitrag eine erfolgreiche Zukunft zu sichern.
Abschließend möchte ich betonen, dass die Studie uns ermöglicht, uns auf die wichtigsten Entwicklungen in der Zukunft zu konzentrieren. Der BDI hat nun konkrete Handlungsansätze, um die Digitalisierung und F&E voranzutreiben und damit den Herausforderungen des Fachkräftemangels und des internationalen Wettbewerbs proaktiv zu begegnen. Der nächste Schritt ist, diese Erkenntnisse umzusetzen.
Wir danken für das Gespräch.